Rede des Vorsitzenden der CDU-Landtagsfraktion, Dirk Toepffer, zu TOP 2 „Unterrichtung durch den Ministerpräsidenten über die Ergebnisse der Videokonferenz des Bundeskanzlers mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder am 16.02.2022 und die Umsetzung in Niedersachsen“

– Es gilt das gesprochene Wort. –

Hannover. Bund und Länder haben sich darauf verständigt, die Corona-Beschränkungen in mehreren Schritten bis zum 20. März aufzuheben.

Der 20. März ist ein Sonntag, Ende der 11. Kalenderwoche. Wir können uns den Tag rot einkreisen, denn er markiert den Schlusspunkt einer Pandemie, die uns dann über zwei Jahre in Atem gehalten hat. Wohlgemerkt: Er markiert das politisch bestimmte Ende dieser Pandemie, nicht etwa das tatsächliche, das medizinische oder das administrative.

Weitgehend unbeachtet hat also ein bemerkenswerter Paradigmen­wechsel in der bisher von harten Kennzahlen bestimmten Pandemie-Politik stattgefunden. Entscheidend allein ist erstmals nicht mehr die tatsächliche oder drohende pandemische Lage, sondern die gering ausgeprägte Lust der neuen Regierung, sich weiter mit der Gefahr des Virus auseinanderzusetzen und die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Und so jubeln die einen in der Bundesregierung über ihren lang herbeigesehnten und endlich greifbaren „Freedom Day“, während die anderen nicht müde werden zu betonen, dass ein solches Label sachlich überhaupt nicht zutreffen würde.

Keine Frage: Jede Einschränkung der persönlichen Freiheit, die hinsichtlich der abnehmenden gesellschaftlichen Gefahr der aktuellen Virusvariante nicht mehr verhältnismäßig ist, muss wieder zurück­genommen werden.

Viele Menschen sind müde, halten sich im Privaten nur noch begrenzt an die Verordnung. Und weil die Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems – Stand heute – nicht mehr droht, ist es nur folgerichtig, die Beschränkungen in Schritten aufzuheben. In Schritten deshalb, weil wir dann auf bis dahin sich ergebende Veränderungen noch reagieren können.

Ist der 20. März jedoch erreicht, ist die Pandemie politisch und hier in Niedersachsen auch juristisch vorbei. Die Länder und Landkreise haben dann im Falle erneuter Ansteckungswellen keinerlei rechtliche Handhabe mehr, scharfe Maßnahmen zu ergreifen, die dem Infektionsschutz der Bevölkerung dienen. Ich halte das für einen großen Fehler.

So sind wir ab dem 21. März abhängig allein von Entscheidungen der Bundesregierung. Einer Bundesregierung, die in der Frage der Corona-Politik nicht mit einer Stimme spricht. Da sind die einen, die auf dem Höhepunkt jeder Welle traditionell den „Freedom Day“ fordern und diesen in Regierungsverantwortung endlich bekommen haben. Und da sind die anderen, die den Lockdown des Jahres 2020 am liebsten bis heute nicht beendet und zum Anlass genommen hätten, ganze Industriezweige sterben zu lassen, indem man ihnen Hilfsgelder aus klimaschutzpolitischen Gründen versagt.

Schon bei ihrer ersten wichtigen Belastungsprobe – der Impflicht und ihrer konkreten Ausgestaltung – hat die Ampel keine Mehrheit im Bundestag. Aus dieser Entscheidung eine Gewissenfrage zu konstruieren und Abgeordnete der eigenen Koalition aufzufordern, Gruppenanträge einzureichen, ist nichts anderes als das Eingeständnis politischen Versagens. Mir persönlich graut vor der Vorstellung, dass dieser Bundesregierung nach dem politisch erklärten Ende der Pandemie ein Kanzler vorsteht, der schweigt, zögert, zaudert und genau das Gegenteil dessen tut, was er vollmundig im Wahlkampf versprochen hat: Nämlich zu führen.

Olaf Scholz führt nicht. Er lässt geschehen und sieht tatenlos zu, wie sich Politik ihrer Möglichkeiten beim Infektionsschutz selbst beraubt. Wie geht es denn nach dem 20. März weiter, meine Damen und Herren?

Eine allgemeine Impfpflicht, oder zumindest eine solche für Menschen ab 60 Jahren und für Beschäftigte der kritischen Infrastruktur, ist in weite Ferne gerückt. Dabei ist sie aus medizinischer Sicht das entscheidende Instrument, die wesentliche Bedingung dafür, die jetzt so oder so endenden Beschränkungen überhaupt aufheben zu können. Man geht also den zweiten vor dem ersten Schritt.

Der Bundeskanzler hat sein Versprechen gebrochen. Er hat das bestehende Zeitfenster, in dem sich eine signifikante Mehrheit der Bevöl­kerung für eine Impflicht ausgesprochen hat, verstreichen lassen und lediglich mitteilen lassen, dass er als Abgeordneter für eine Impflicht sei. Eine bemerkenswerte Aussage für jemanden, der führen will, sich aber offensichtlich nicht durchsetzen kann. Nicht in seiner Partei, und erst recht nicht in seinem Kabinett.

Bleiben wir ehrlich: Der Zug ist abgefahren. Olaf Scholz macht keine Politik gegen Meinungstrends und die Mehrheit seiner Partei. Weder beim Umgang mit den russischen Aggressionen in der Ukraine, noch bei Corona. Wider besseren Wissens laufen wir angesichts der mageren Impfquote damit Gefahr, den jetzt noch gar nicht absehbaren Wellen schutzlos ausgeliefert zu sein.

Wenn sich die regierungstragenden Fraktionen im Bundestag – wie zu erwarten – nicht auf eine allgemeine Impfpflicht verständigen können, könnte ein Impfregister der letzte Ausweg sein. Ein Impfregister kann zuverlässigere Daten über den Impffortschritt liefern und Klarheit über mögliche Nebenwirkungen schaffen. Es ermöglicht die einfache Kontaktaufnahme mit bisher Ungeimpften und gibt uns die Chance, positiv auf Unentschlossene einzuwirken – Datenschutzkonformität vorausgesetzt. Die Frage der Impfpflicht oder eines Impfregisters ist in Sachen Pandemie jedoch bei Weitem nicht die einzige Baustelle der Bundes­regierung. Leider habe ich den Eindruck, dass die Baustellen dort – noch immer beseelt vom Wind der Veränderung – gar nicht gesehen werden.

Die Baustellen sind ja auch profan und für eine neue Regierung, die sich viel vorgenommen hat, wohl recht langweilig. Wie geht es denn weiter mit der Home-Office-Regelung? Wird das Kurzarbeitergeld verlängert, weil die Lieferketten pandemiebedingt noch oder wieder gestört sind? Welche Vorkehrungen werden getroffen, um den Infektions- und Katastrophenschutz bei künftigen Wellen oder gar neuen Pandemien sicherzustellen? Wie päppeln wir die vielen Kinder und Jugendlichen auf, die zweifelsohne zu den besonders geschädigten Gruppen gehören?

Das Jahr 2022 muss das Jahr der Lehren, der Aufarbeitung und der politischen Konsequenzen aus der Corona-Pandemie werden. Wir brauchen jetzt einen „Aktionsplan Pandemievorsorge“. Einen Plan, der die Fehler der Vergangenheit antizipiert und bundeseinheitliche Standards für jenen Fall definiert, dass das Virus eben nicht am Ende der 11. Kalenderwoche planmäßig einfach verschwindet. Denn wenn uns die Pandemie in den vergangenen zwei Jahren eines gelehrt hat, dann dass das Virus uns diesen Gefallen nicht tun wird. Auch hier in Niedersachsen müssen wir für alles gerüstet sein und Vorkehrungen treffen, wie wir die Bevölkerung auch ohne das scharfe Schwert einer Landes-Verordnung bestmöglich schützen können.

Was ist, wenn wir im Herbst eine weitere Welle erleben, möglichweise in Form einer neuen, erheblich gefährlicheren Variante des Corona-Virus? Wie sehen dann die Antworten dieser Landesregierung, dieses Parlamentes aus?

Ja, wir dürfen uns nicht auf ewig unser Leben durch das Virus bestimmen lassen.

Und doch könnte eine zu laxe Handhabung, ein unvorsichtiger „Freedom Day“ ohne Rückkehroption zum Verordnungsregime sehr schnell dazu führen, dass wir im Spätherbst, wenn sich in Niedersachsen eine neue Landesregierung bildet, wieder in eine sehr unübersichtliche und gefährliche Situation geraten. Bis dahin müssen die entscheidenden Fragen geklärt sein.

Worum geht es? Wir müssen als erstes Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene ins Zentrum unserer Strategie stellen, in enger Rücksprache mit den Jugendämtern Schlüsse aus den vergangenen Wellen ziehen und die Schulsozialarbeit finanziell besser ausstatten.

Wir müssen den Präsenz-Regelbetrieb in Kitas, Schulen und Hoch­schulen absichern und dafür passgenaue, einheitliche Teststrategien ebenso vorsehen wie die richtigen Tests, Luftfilteranlagen und weiteres Hygienematerial.

Wir müssen die Digitalisierung der Bildungseinrichtungen, die in den letzten zwei Jahren notgedrungen erhebliche Fortschritte gemacht hat, weiter forcieren und Lehrkräfte intensiv weiterbilden. Das zugesagte Bundesprogramm „Digitale Hochschule“ ist für unsere Universitäten von größter Bedeutung und sollte besser heute als morgen endlich aufgelegt werden.

Wir müssen die Digitalisierung der mittelständischen Betriebe, die Wirtschaftsminister Bernd Althusmann bereits mit Förderprogrammen unterstützt, noch stärker vorantreiben. Weil die weiterhin geltenden hohen Hygienestandards und Sicherheitsmaßnahmen für Unternehmen teurer sind als die Beibehaltung und der Ausbau des Home-Office-Angebots. Statt die Menschen in Sicherheit zu wiegen, sollten wir deutlich machen, dass das Land Sofort-Investitionen in hybrides Arbeiten erheblich fördert.

Zu diesen mittelständischen Betrieben gehören übrigens auch Alten- und Pflegeheime, die wir bei der Digitalisierung oder zumindest im Zuge der Bereitstellung von digitalen Endgeräten ebenfalls unterstützen müssen. Viele ältere Menschen sind gerade zu Beginn der Pandemie einsam verstorben. Das darf sich nicht wiederholen. Digitale Angebote erleichtern die Kommunikation mit Familienangehörigen und den Zugang zu kulturellen Angeboten auch auf Abstand.

Überhaupt, die Kultur! Wir müssen jetzt mit den Verbänden der Kultur- und Veranstaltungswirtschaft nach Lösungen suchen, um sichere Events zu ermöglichen, nicht nur im digitalen Bereich. Hier geht es um Planungs­sicherheit für eine Branche, die wie kaum eine andere von den Beschrän­kungen betroffen war und in erheblichem Umfang immer noch ist. Wir brauchen Kultur und Unterhaltung gerade in einer Pandemie. Nur muss beides sicher sein.

Um diese Sicherheit vor allem in den kälteren Monaten dieses Jahres zu gewährleisten, dürfen wir beim Testen und Impfen nicht lockerlassen. Wir müssen, wenn die juristischen Einschränkungen schon entfallen, flächendeckend mobile und stationäre kostenfreie Test- und Impfzentren vorhalten. Gerne in bewährter enger Zusammenarbeit mit Sozialträgern und Unternehmen.

Wir müssen den sogenannten Totimpfstoff „Novavax“ in ausreichender Menge bestellen und in den Impfzentren vorhalten, weil dieser – warum auch immer – geeignet ist, bisher skeptische Personen von einer Impfung zu überzeugen.

Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, möchte ich als letztes Element des „Aktionsplans Pandemievorsorge“ auf unsere niedersächsischen Forscherinnen und Forscher zu sprechen kommen.

Wir sind ihnen zu großem Dank verpflichtet. Mittlerweile hat ja jeder wichtige Politiker, der Entscheidungen in dieser Pandemie treffen muss, seinen eigenen Beraterstab – der Herr Ministerpräsident, der Herr stellvertretende Ministerpräsident natürlich auch, das Kanzleramt, der Gesundheitsminister, und das ist auch richtig so.

Ohne das Wissen der Forschenden, ohne den interdisziplinären Austausch der Medizinerinnen und Virologen untereinander, wäre Politik der Pandemie schutzlos ausgeliefert gewesen. Deshalb sind mehr Investitionen in die medizinische Spitzenforschung in unserem Land dringend geboten. Wir können uns keinen Brain Drain leisten, nicht auf dem Arbeitsmarkt und erst recht nicht im Bereich der virologischen Forschung.

Was entstehen für neue Virus-Varianten, und wie gefährlich sind sie? Was ist virologisch geboten, um den Schutz einzelner Gruppen oder der gesamten Bevölkerung zu gewährleisten?

Die Gesundheitsforschung in Niedersachsen braucht eine verlässliche Perspektive, und die müssen wir ihr geben. Ich bin Wissenschafts­minister Björn Thümler dankbar, dass er uns zu dieser wichtigen Frage am Freitag Rede und Antwort stehen wird.

Das, was wir in den vergangenen 2 Jahren erlebt haben, war aber nicht nur eine Krise des Gesundheitssystems. Es war auch eine Wirtschafts­krise, eine Kulturkrise und darüber hinaus auch eine Staatskrise. Eine Krise des demokratischen Systems. Eine Krise, die leider weiter andauert. Und vermutlich über das Ende der Pandemie hinausgeht.

Da gab es Menschen, die den Verlust der Freiheit, gar das Ende der Demokratie beklagt haben. Da gab es das Gerede von einer „Corona­diktatur“. Und das häufig von jenen, die ansonsten eine geradezu freundschaftliche Nähe zu denen pflegen, die sich tatsächlich Diktatoren nennen dürfen.

Wir sollten gerade angesichts dessen, was sich nicht weit von uns im Osten Europas abspielt, ein Stück weit nachdenklich werden. Und überlegen, ob wir eigentlich überhaupt noch realisieren, welche Freiheiten wir in unserer Demokratie selbst in der Pandemie genossen haben. Und wir sollten dieser Demokratie wieder mehr Wertschätzung entgegenbringen.

Wer hier noch weiter von einer „Coronadiktatur“ redet, spottet in entsetzlich zynischer Weise all jenen, die gerade in der Ukraine um Leib und Leben fürchten. Spottet über jene 13.000 Menschen, die ihr Leben mit Beginn des Konflikts bereits verloren haben. Spottet über Regime­kritiker wie Alexei Nawalny, der in seiner Heimat vergiftet wurde, und nun, weil er deutsche Ärzte für seine Rettung in Anspruch nahm, in einem russischen Lager schmachtet. Spottet über Journalisten, die in Russland nicht mehr frei berichten dürfen. Und spottet über junge russische Menschen, die ein wirklicher Diktator gegen ihren Willen in einen blutigen Konflikt führt.

Zynisch waren aber auch die Aussagen jener, die diesen Diktator noch vor wenigen Jahren gelobt und als „klugen und differenzierten“ Politiker bezeichnet haben.

Was die Demokratie angeht, haben die Pandemie und der Krieg gegen die Ukraine eines gemeinsam: Es bedarf wehrhafter Menschen, die sich denen, die unsere Werte verraten wollen, entgegenstellen. Kein Appeasement gegenüber sogenannten Querdenkern und Reichsbürger­szene. Kein Appeasement gegenüber jeder Form von außenpolitischer Aggression.

veröffentlicht am 23.02.2022